
Ein Schluck vom hochprozentigen Schlangenschnaps aus einer bauchigen Flasche mit einer auf dem Boden eingerollten Habu Giftschlage, serviert von Herrn Takemori, dem Besitzer einer Minshoku, einer japanischen Familienpension, lässt die Strapazen einer 42 stündigen Anreise vergessen.
Iriomote ist eine Insel am südwestlichen Zipfel der japanischen Inselkette, etwa 180 km von Taiwan entfernt. Gerade noch bewundere ich von einem Boot aus ihre bergige, von Dschungel überwachsene Silhouette inmitten des smaragdgrünen Meeres. Einen Augenblick später tauche ich in den Unterwasserkosmos der Korallenriffe ein. Bevölkert von unzähligen Kreaturen, so erstaunlich und fantastisch – kein Mensch wäre im Stande sich so etwas auszudenken. Ich bin umgeben von Fischen in allen erdenklichen Formen und Farben. Wie einen Vorhang schiebe ich Horden winziger Fische auseinander, deren Körper phosphoreszierenden Glasfiguren gleichen. Schwebend in dieser Unterwasserwelt konzentriere ich mich auf seine Bewohner. Unweit von mir zieht majestätisch eine Karettschildkröte vorüber und nähert sich neugierig einer riesigen blauen Venusmuschel, welche sofort ihre Schale zuschlägt.
Von dem Spektakel unberührt schwimmen gelbblaue und zitronenfarbige Kaiserfische an mir vorbei; grüne, rote und violette Papageifische funkeln mich mit ihren metallisch glänzenden Schuppen an. Auch die Kupferstreifen-Pinzettfische, fluoreszierende Doktorfische und Picasso-Drückerfische schweben unbeeindruckt durch das Blau des Meeres. Nichts aber kann die Fremdartigkeit der Unterwasserwelt so auf den Punkt bringen wie der Rotfeuerfisch, der sich langsam mit gespreizten Brustflossen an seine Beute anpirscht, sie in die Enge treibt und schließlich mit einer Schluckbewegung blitzschnell ins Maul saugt.
Meine Aufmerksamkeit gilt jetzt den Korallengärten mit ihren „Blumenbeeten“ voll bunter Seeanemonen – in ihnen tummeln sich groteske Clownfische, die tapfer ihre Reviere verteidigen. Sanft wogende Schwämme mit blauen Kelchen bilden kolossale Tulpenfelder. In der Tiefe erblicke ich die torpedoähnlichen Umrisse mehrerer großer Haie. Ohne Eile patrouillieren sie entlang der Korallenabhänge. Mit einem Mal bin ich von Tintenfischen umzingelt, die ebenso gut außerirdisch sein könnten. Bewegungslos, forschend, geradezu neugierig beobachten mich diese bunten, „porzellanartigen“ Körper, durch die das opalisierende Licht pulsiert. Ich schaue in ihre großen, türkisfarbenen Augen – mich durchdringt ein nie dagewesenes Gefühl. Zeit aufzutauchen.
Monotoner Gesang in einer Mundart, die nur auf dem Okinawa-Archipel erklingt, begleitet von hohen, metallischen Klängen des mit Schlangenhaut überzogenen Jabisen-Zupfinstruments, unterstreicht die surreale Uferübersetzung. Ich sitze in einem von einem Wasserbüffel gezogenen Karren mit Reisstrohdach. Auf die kleine Insel Yobu, durch eine einige hundert Meter breite Meerenge getrennt von der Insel Iriomote, bringt mich während der Ebbe der 81-jährige Vater des Pensionsbesitzers, Yasumitsu Takemori. Er ist auch der fröhliche Jabisen Spieler. Yobus kleiner botanischer Garten verzaubert mit einer unvergleichlichen Farbenpracht und Vielfalt exotischer Pflanzen. Besonders frappierend sind die Hibiskus-Pflanzen, deren große, zarte, purpurrote Blüten sanft in der frischen Brise schwingen.
Die letzte Nacht auf Iriomote. Neumond; windstill. Auf der eisglatten Lagune spiegeln sich silberne Sterne. Umhüllt von der Milchstraße. Hierher komme ich wieder.
0