
So viel wird geschrieben über dieses mystifizierte Herkunftsland von Sushi und Naruto, so viel spekuliert und weitergetragen, und doch scheint der größte Teil des Westens Fakten mit Geschichten und Wunschphantasien bis zur Unkenntlichkeit zu vermengen. Als Tochter einer Japanerin will ich nun ein für alle Mal alle Fehlinterpretationen über Japan aufklären.
Wann immer ich neue Bekanntschaften schließe, werde ich früher oder später mit der Frage meiner Herkunft konfrontiert. Die Antwort ist simpel und immer dieselbe: ich bin Norddeutsche. Hamburgerin, um genau zu sein. Doch auch die Reaktion ist mir inzwischen allzu bekannt: „Ja – aber wo kommen denn Deine Eltern her?“
Sicher, ich mag nicht so aussehen, wie man sich eine typische Norddeutsche vorstellt. Mittlerweile habe ich mich damit abgefunden. Daher antworte ich so diplomatisch, wie es mir möglich ist: Mein Vater ist Pole, meine Mutter Japanerin. „Japan!“ bekomme ich jedes Mal zu hören. Für die slawische Hälfte scheint sich kaum jemand zu interessieren. Sofort werde ich mit vermeintlichen Komplimenten überhäuft: „Da wollte ich schon immer mal hin!“ „Ich liebe Sushi!“ „Ich gucke wahnsinnig gern Animes!“ „Ihr habt so eine faszinierende Kultur!“
Zunächst einmal würde ich gerne eines klarstellen: wir haben gar nichts.
Meine persönliche Beziehung zu diesem Land des stillen, durchdringenden Lächelns ist ebenso ambivalent, gar zerrissen, wie die Beziehung des Landes zu sich selbst. Die Ausschnitte aus der Kultur, die hier bei uns im Westen ankommen, sind zum Teil so völlig aus ihrem Kontext gerissen, dass ein viel zu simplifizierter, romantisierter Eindruck über das Land entsteht.
Da ist die Seite, die sich ihrer tiefen jahrtausendealten Wurzeln bewusst ist. Die Seite, die sich nicht von ihrer zugegebenermaßen reichen Kultur zu trennen vermag. Mit ihr einhergehen Tugenden und Traditionen, die nur schwer vereinbar sind mit den modernen Standards einer individualisierten, expressiven Gesellschaft.
Hier tritt der Kontrast in Szene: Japan, das Land des Fortschritts, der futuristischen Technologien, der trendsetzenden Ikonen und Vorbilder. Geradezu losgelöst von den Ursprüngen, so mag man zunächst glauben. Eine Kultur, die sich durch stille Akzeptanz, durch tugendhaften Gehorsam, durch eine strikte Hierarchie bewährt hat, kann niemals in den neuen Konzepten von Eigeninitiative, Impulsivität und Individualität überleben.
Genau dieser Konflikt ist derjenige, der sich durch alle Bereiche des Landes zieht. Begonnen bei widersprüchlichen Botschaften der Medien über fremdartige Entwicklungen der öffentlichen Meinung bis hin zu schlichtweg unverständlichen Inkorporationen von Tradition und Moderne.
Wer sich der befremdlichen Konfrontationen in Japan bewusstzuwerden sucht, der stößt zwangsweise auf die vieldimensionalen Eigenheiten der Landschaft. 73% des Landes bestehen aus Bergen und Wäldern. Das bedeutet: 73% des Landes sind unbewohnbar. Als Konsequenz sind die habitablen Zonen ungeheuer dicht bevölkert. Mehr als 125 Millionen Menschen müssen sich auf 377.944km² drängen – zum Vergleich leben im fast gleich großen Deutschland nur knapp 81 Millionen. Um mit einer Bevölkerungsdichte von 377,1 Menschen pro Quadratkilometer zurechtzukommen, bedarf es einer dem Westen unvorstellbaren Reserviertheit, die sich gefährlich nah am Rande der Entfremdung bewegt. Glücklicher Weise baut die japanische Mentalität seit ihren Anfängen auf Distanz und professionelle Zurückhaltung.
Die Geographie Japans prägt das Land auf so bedeutende Weise, dass die kulturelle Entwicklung vorbestimmt scheint. Japans längliche Inselform teilt das Klima in sechs Zonen, die von den eisigen, verschneiten Wintern des Nordens (Durchschnittstemperatur im Januar liegt zwischen -12 und -4°C) bis hin zum tropischen Regenwaldklima der südlichen Okinawa-Präfektur (20-30°C das ganze Jahr über) reichen. Durch diese graduellen Veränderungen im Land entstehen teils extreme Unterschiede zwischen den Regionen. Wer glaubt, Bayern und Schleswig Holstein seien zwei Welten, der kennt den Kulturschock eines Nordjapaners auf Okinawa nicht.
Doch gerade diese krassen Verschiedenheiten innerhalb eines eigentlich so kleinen Volkes bringen eine bezaubernde, märchenhafte Diversität mit sich. Die Schneefeste in Sapporo nehmen königliche Ausmaße an, wenn gigantische Schlösser und atemberaubende Fabelwesen dem eisigen Weiß Leben einhauchen. Die Japaner haben auf vorbildliche Weise gelernt, mit den belastenden Schneemassen umzugehen, aus ihnen eine unterhaltende Kunstform zu machen, die langen, schweren Wintermonate zu einer Attraktion umzudeuten.
Wunderschön sind die Kirschblütenfeste im Frühjahr, unzählig die Gedichte und Lobgesänge auf die Sakura-Blüten. Wer einmal zur rechten Zeit auf den Wassern des Chidorigafuchi Berggrabens die Kirschblüten auf sein Haupt herniederregnen gespürt hat, wer die seidigen weißrosafarbenen Blätter sich auf dem Grund des Bootes wie Schnee sammeln gesehen hat, der begreift vielleicht die Zeilen des großen japanischen Poeten Matsuo Basho:
„Samazama no
koto omoidasu
sakura kana“
–
„Viele, viele Dinge
Rufen sie in den Sinn
Ah, Kirschblüten!“
Die japanische Poesie lebt mehr als jede andere japanische Kunstform von der perfektionierten Ästhetisierung melancholischer Schlichtheit. Die minimalistische Grazie, die auch in der traditionellen Kleidung, in den altertümlichen Bauten und Tempeln, ja sogar in jeder Mahlzeit einen großen Platz einnimmt, könnte einen der wichtigsten Unterscheidungsmerkmale zum Festland ausmachen.
Logischer Weise würde man meinen, die Kunst entstünde aus der Gesellschaft heraus. Doch bei den Japanern bin ich mir inzwischen gar nicht mehr so sicher. Als ich jünger war, brachte mir meine Großmutter die Grundlagen der Teezeremonie bei. Wir übten bei ihr zuhause, drum trug ich keinen Kimono, war nicht entsprechend geschminkt und hatte meine Haare nicht in der ikonisierten Hochsteckfrisur. Trotz der höchst saloppen Umstände, in denen wir den Tee zubereiteten, wurde mir in dem Augenblick bewusst, wie sehr die strikten Regeln, die Vorbestimmtheit jeder Bewegung, jedes Wortes, jedes Augenschlags die Japaner diszipliniert. Alles erfolgte nach Plan: der Eintritt, die Begrüßung, die rituelle Säuberung der Geräte, die Handbewegung, mit welcher der Tee in die Chawan, die Trinkschale, hineingeklopft wurde, die halbe Drehung der in Empfang genommenen Chawan, die Rückgabe der Schale an die Gastgeberin. Man könnte es für lächerlich halten, für zweckentfremdet und sinnlos – doch der Zauber des Augenblicks belehrt den Gast eines Besseren. Ich fand als junges Mädchen großen Gefallen daran, die Kunst der Teezeremonie so weit wie möglich zu perfektionieren. Hier sind vielleicht einige der Wurzeln japanischer Perfektion und Disziplin zu erkennen; sie entstehen nicht zwanghaft, nicht aus Drill oder Bevormundung. Sie entwickeln sich natürlich, durch die Traditionen, die klaren Abläufe, die unmissverständlichen Berechnungen, die sich in Kunst und Kultur manifestiert haben.
Der Glaube ist tief in der japanischen Kultur verwurzelt (japanisches Paar in traditioneller Kleidung vor einem Tempel in Kyoto)
Warum aber brauchen die Menschen auf diesem einsamen Inselstaat so viel Berechenbarkeit? Wieso nehmen sie sich selbst die Faszination des Unbekannten?
Es könnte mit den natürlichen Umständen zusammenhängen, denen sich das Land beugen muss. Neben dem Unvorhersehbaren, das in Wäldern und Bergen lauert, spielen besonders die Naturkatastrophen eine große Rolle. Wieder läuft es auf die geographischen Begebenheiten zurück: um sich von der unangenehmen Überraschung plötzlicher Taifune, Tsunamis und Erdbeben zu distanzieren, wird ein Versuch unternommen, alles Kontrollierbare bis ins Extreme zu kontrollieren. Zumindest ist das meine Interpretation.
Faszinierend hier auch, wie sich die Zerrissenheit Japans in seiner Beziehung zur Natur widerspiegelt: wegen der Unbewohnbarkeit werden viele Teile des Landes ihrer natürlichen Entwicklung überlassen. Die Naturbelassenheit weiter Flächen zieht Touristen aus aller Welt in verschneite Gebirge und heiße Quellen. Doch gleichzeitig versuchen die Japaner mit ihrer fortschrittlichen Technologie die Unberechenbarkeit von Naturkatastrophen zu zügeln. Der Natur unterworfen und gleichzeitig Herr über die futuristische Wissenschaft – die Vereinbarung zweier so entgegengesetzter Prinzipien ist lediglich eine Modernisierung einer jahrtausendealten Kultur.
Eine Eigenschaft der japanischen Gesellschaft, die mich bis heute skeptisch stimmt, ist die starke Rollentrennung der Geschlechter. Vorstellungen davon, wie eine „richtige“ Frau, wie ein „richtiger“ Mann sich zu verhalten haben, wie sie auszusehen und zu sprechen haben, sind auch jetzt noch äußerst präsent im öffentlichen Auge. Kommentare bezüglich meiner mangelnden Weiblichkeit, meiner lauten Meinungsäußerungen und meines fehlenden Respektes gegenüber männlichen Gefährten begegnen mir in Japan regelmäßig. Mittlerweile ignoriere ich diese einfach, doch leben könnte ich unter solchen Umständen nicht. Japanerinnen verdienen im Schnitt 27% weniger als Japaner – im Vergleich beträgt der durchschnittliche Gehaltsunterschied in Deutschland 16%.
Das Gender-Problem findet sich auch in den japanischen Künsten wieder. Eine Offenbarung war für mich die Entdeckung des Kabuki-Theaters, einer Kunstform, die mit ihrer absoluten Perfektion fast ins Künstliche übergeht. Gegründet 1603, wurde das ursprüngliche Frauentheater nach gerade einmal 26 Jahren aufgrund starker Erotisierung und Prostitution verboten. Seit dem hat sich das Wakashu-Kabuki etabliert, ein Theater, indem alle Rollen von männlichen Schauspielern portraitiert werden. Die Kunst des Onnagata, also der weiblichen Rolle, könnte widersprüchlicher zum japanischen Männlichkeitsideal nicht sein. Und doch ist es zu einer regelrechten Industrie geworden, die aus männlichen Schauspielern Frauen hervorbringt, die weiblicher sind, als ich es jemals sein werde. Der bekannteste zeitgenössische Onnagata heißt Bando Tamasaburo.
Das Kabuki-Theater wird als Ursprung der japanischen Pop-Kultur gehandelt. Und die hat es in der Tat in sich; wenn dem Westen eines aus Japan bekannt ist, dann ist es die bizarre Pop-Kultur. Aus dem japanischen schlichten Understatement wird ein überladenes Overstatement – je knalliger und abstrakter, umso angesagter. Einer der größten Popstars dieser Zeit ist Kyary Pamyu Pamyu. Mit zarten sechzehn Jahren machte sie sich einen Namen als Fashion Bloggerin und war bald in bekannten Harajuku Modemagazinen zu sehen. Harajuku ist das Tokioter Viertel, das die glitzernd farbenfrohen Fashion-Trends vorgibt. Mit achtzehn veröffentlichte Kyary ihre Hit-Single „Tsukematsukeru“, ein Lied über Klebewimpern. Im zugehörigen Musikvideo trägt sie eine Schleife der doppelten Größe ihres Kopfes und gigantische Klebewimpern auf jeder Brust. Ich liebe den Song.
Die piepsige Stimme und die Überspitzung des „kawaii“-Effektes, das sich nicht ins Deutsche übersetzen lässt (die gängige Übersetzung lautet „süß“, doch das ist nur ein geringer Teil der tatsächlichen Bedeutung), spielen doch gut in die traditionelle Genderrolle der japanischen Frau hinein.
Diese neue nach außen getragene Expression künstlerischer Ideen führt unter jungen Japanern zu einer höheren Wertschätzung der Individualisierung. Gelten im professionellen und familiären Umfeld weiterhin Höflichkeit, Gehorsam und Ehrerbietung als wichtigste Tugenden, können die Jugendlichen und jungen Erwachsenen sich in der Pop-Kultur ausleben. In Deutschland wird mein Kleidungsstil oft als auffällig bezeichnet; in den knallbunten Straßen Japans gehe ich mit meinen langweiligen westlichen Outfits praktisch unter.
Um eine vollendete Vermischung von Tradition und Moderne zu erleben, reicht es fast schon, dem „Senbonzakura“ der Wagakki Band zu lauschen.
In ihren Anfängen waren Mangas alles andere als mainstream. Sie galten als verachtenswert, unkultiviert, und ihre Anhänger wurden abwertend als „Otakus“ abgehandelt. Längst haben die grenzenlosen Geschichten in dem spezifischen Art-Style Anhänger auf der ganzen Welt gefunden. Selbst Deutsche, die sich nicht mit dem Otaku-Lifestyle und den Geek-Straßen von Akihabara identifizieren, kennen Serien wie „One Piece“, „Death Note“ oder „Naruto“. Doch der Weirdness-Faktor bleibt durch Mangas wie „Hentai Kamen“ bestehen – einem Superhelden, der seine Identität mit Netzstrumpfhosen, knallengen Slips und einer Unterhose über dem Gesicht verdeckt hält. Seine Super-Power entfaltet sich, wenn sein Schritt das Gesicht des Gegners berührt. Die Verfilmung gehört zu meinen Lieblingsstreifen.
In den richtigen Bezirken Japans werden die Augen oft überreizt, doch warum sollen die Ohren dabei zu kurz kommen? Für den ultimativen Kick und einen weiteren Schritt in Richtung Herzinfarkt sorgen Supermärkte und Geschäfte. Beim Eintritt wird man von übereifrigen Verkäufern mit „Irasshaimase!“ angeschrien. Nicht erschrecken. Dies ist die gängige Begrüßung für potentielle Kunden. Schon ist man einer Tausend-Dezibel-Geräuschkulisse ausgeliefert. Aus zwanzig Lautsprechern dringen Werbesprüche für 23 verschiedene Produkte. Ein Blick auf die Preisschilder versetzt den Kunden in einen traumartigen Trance-Zustand. Je nach Geschäft kann das Gutes oder Schlechtes bedeuten.
In Deutschland gibt es die Euro Shops. In Japan gibt es 100¥-Shops. Diese sind nicht miteinander zu verwechseln. Die Euro Shops haben einige Haushaltsgegenstände, etwas Geschirr, vielleicht das ein oder andere Deko-Element.
100¥-Shops haben alles.
Und das in den verschiedensten Formen, Farben, Designs – der Schwachsinn, der dort in plüschpink erhältlich ist, würde in Deutschland ohne weiteres zwanzig, dreißig Euro kosten, und doch keinen Abnehmer finden. Am Ende der Straße, in der meine Großmutter wohnt, ist ein monumentaler 100¥-Shop; wann immer ich meine Oma besuche, macht der Laden dreifache Quartalsumsätze. Wie ich die Dinge dann zurück nach Deutschland transportieren soll, ist ein bis heute ungelöstes Problem.
Genau entgegengesetzt ist die Reaktion, wenn man sich als Deutscher im japanischen Supermarkt umsieht. 125g Kirschen für 750¥ – das sind knapp 5,70€ für die besten der besten Kirschen aus Kalifornien; rund, groß, saftig. In Japan ist es Gang und Gebe, anstatt teurer Flaschen Alkohol dem Gastgeber Kisten der luxuriösesten, kostspieligsten Früchte zu schenken.
Für einen Touristen ist es nicht immer leicht, sich in den Eigenheiten des Landes zurechtzufinden. Japans Beziehung zum Festland ist, milde ausgedrückt, kompliziert. Mit einem Ausländeranteil von 1,9% (Ausländeranteil in Deutschland: 11,9%) verzeichnet Japan weniger Immigration als Südkorea. Deutsche erfreuen sich allerdings in Japan großer Beliebtheit – das heißt, solange sie als Touristen unterwegs sind. Die kulturliebenden Japaner achten und schätzen die klassische Kunst Deutschlands, insbesondere die klassische Musik und Literatur. An vielen japanischen Schulen ist Goethe Pflicht; wie viele deutsche Schüler können sagen, sie hätten Yukio Mishima oder Soseki Natsume gelesen, noch dazu als Schullektüre?
Solange man Japan besucht, sich für die Besonderheiten begeistert und höflich die Sitten und Bräuche bewundert, hat man es als Deutscher sicherlich gut im Land des (aufgesetzten) Lächelns. Als ich mit 12 Jahren das Kosmetikgeschäft betrat, in welchem meine Großmutter viele Jahre gearbeitet hatte, wurde ich von den jungen, hübschen Verkäuferinnen auf meine Herkunft angesprochen. „Jia, half desu ne?“ stellten sie fest, was so viel heißt wie „Dann bist Du also gemischt?“ Als ich nickte, staunten beide auf: „Aa, ii desu ne!“ – „Du hast es aber gut!“ Gemischt zu sein, ist in Japan noch immer eine Rarität und sorgt wegen des exotisch anmutenden Aussehens für zumeist positive Aufmerksamkeit. Doch damit war ich auch schon als Europäerin abgeschrieben. Ich gehörte nicht zu den Japanern. Ich war Ausländerin – obwohl ich die Sprache beherrsche, obwohl meine Mutter japanischer nicht sein könnte. Die Japaner sind da sehr strikt.
Besonders schwer dürften es neben den Koreanern die US Amerikaner in Japan haben. Bekannt natürlich der Angriff von japanischer Seite auf Pearl Harbor und die Reaktion der Amerikaner mit dem zweifachen Atombomben-Abwurf über Hiroshima und Nagasaki. Hinzu kommt, dass während der Besetzung Japans durch die USA nach dem zweiten Weltkrieg weitere Friktionen zwischen den Ländern entstanden; vieles wurde den Japanern aufgezwungen und weggenommen. Als ich mit zwölf Jahren einige Wochen eine Grundschule in der Heimatstadt meiner Mutter besuchte (in Japan gehen die Grundschulen bis zur sechsten Klasse), sahen wir uns zum Jahresabschluss einen Anime über die Hiroshima-Bombe an. Die expliziten Animationen, die uns Kindern damals die Anti-USA Propaganda einprügeln sollten, sind bis heute in meinem Kopf eingebrannt. Der Nationalstolz der Japaner ist unweigerlich mit einer frivolen Ausländerfeindlichkeit verbunden.
Meine Mutter hatte es einfach mit mir als Kind, wenn es ums Essen ging. In 50% der Fälle wollte ich Cha-Han – gebratenen Reis, in den anderen 50% Udon – eine japanische Nudelsuppe, die nicht mit den im Westen bekannteren Ramen zu verwechseln ist. Kein Bericht über Japan kann die göttlichen Speisen dieser delikaten, vielschichtigen Gourmet-Küche übergehen. Es hat seine Gründe, dass Ramen es international zu so großer Bekanntheit und Beliebtheit gebracht hat. Es gilt als große Kunst, dieses Gericht zu vervollkommnen, und ich genoss das Privileg, die besten Ramen-Suppen Japans zu kosten, da die Heimatstadt meiner Mutter nahe an Sapporo liegt – der Ramen-Stadt schlechthin. Die Suppe gibt es in den unterschiedlichsten Variationen, mit diversen Geschmäckern und Zutaten. Die Nudeln dürfen nicht zu weich sein, auch nicht zu dünn. Es ist nicht wie das italienische „al dente“, die Nudeln schmecken doch sehr anders. Man muss es eben probieren. Tatsächlich gilt Ramen als Schnellgericht, das von erfolgreichen „Salary Men“ in der kurzen Mittagspause innerhalb von Minuten hinuntergeschlungen wird. Entgegen dem im Westen verbreiteten Irrglauben, Japaner würden aus Höflichkeit beim Essen schlürfen, hat das hierzulande unsittliche Betragen einen anderen Grund: das Essen ist verdammt heiß. Noch dazu sind die Nudeln sehr lang und von Suppe umhüllt – dabei nicht zu schlürfen gleicht einem Akrobatik-Akt. Trotzdem habe ich es oft versucht, da mich der europäische Knigge doch sehr geprägt hat, und wurde dafür im Ramen-Restaurant seltsam angeblickt. Es gilt nicht als unhöflich, es wirkt einfach fremdartig und forciert.
Bevor jetzt hier alle in Japan beim Essen zu Schmatzen und Schlürfen anfangen, sollte ich noch hinzufügen, dass dies nur bei heißen, nudelartigen Speisen angebracht ist. Die Japaner schätzen ihre Stille und Zurückhaltung.
Über das japanische Essen könnte ich Bücher füllen. Wenn mir Freunde aus Nettigkeit erzählen, wie gerne sie doch California Rolls und Avocado Makis essen, nicke ich freundlich, doch insgeheim bricht es mir das Herz. Das Gericht, das in Deutschland Sushi genannt wird, hat oftmals wenig mit dem Original zu tun. Sushi ist, anders als Ramen, kein Schnellgericht, im Gegenteil: es ist exquisit, es ist zeremoniell, und es ist teuer. Billiges Sushi ist schlechtes Sushi. Der Reis muss feucht sein, aber darf nicht tropfen, muss eine süßlich-saure Note enthalten, ohne den Geschmack des Fisches zu überdecken. Dieser ist dünn geschnitten, aber nicht zu dünn, sodass man genug auf der Zunge hat, um den vollen Geschmack zu genießen. Im Übrigen wird nicht ins Sushi reingebissen, das Stück wird als Ganzes in den Mund geschoben, deswegen sind die Makis und Nigiris so klein.
Mein Lieblingsgericht unter den gemeinschaftlichen Familienspeisen ist das „Shabu-Shabu“. Dafür wird eine große Pfanne voller Öl auf einen speziellen Esstisch mit Hitzequelle gestellt, dünne rohe Fleischstreifen, Kohl und weiteres Gemüse daneben präsentiert, und diese werden dann nach Wunsch individuell von den Gästen durch das heiße Öl gezogen. Der Name rührt von dem brutzelnden Geräusch des hin- und hergeschwenkten Fleisches.
Die Japaner schätzen die späten Stunden, das Abendessen ist traditionell die wichtigste Mahlzeit des Tages. Hier kommt die Familie zusammen, genießt das Beisammensein und isst ausgiebig. Wobei solche Gerichte auch eher den Feierlichkeiten vorbehalten sind.
Die Essenz der japanischen Kultur, der japanischen Mentalität, des japanischen Lifestyles in dreitausend Wörter zu stopfen, halte ich für unmöglich – doch meine Erlebnisse geben dem ein oder anderen Leser vielleicht einen etwas tieferen, unkonventionelleren Einblick in die unergründlichen Schichten der mysteriösen fernöstlichen Phantasien.
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